Forschung

Im Projekt Herbstzeitlose ist der liebevolle und wesensgerechte Umgang mit unseren Tieren, vom ersten bis zum letzten Atemzug, ein wichtiger Grundpfeiler. Wir bauen zu jedem einzelnen Kalb und zu jeder Kuh eine enge, individuelle Mensch-Tier-Beziehung auf. Dies aus einer tiefen Überzeugung und weil es sich im Herzen einfach richtig anfühlt. Dass unser Umgang mit den Tieren und das Einbeziehen der Konsumenten aber auch wissenschaftliche Relevanz hat, freut uns sehr. Lisa Märcz von der Uni Lugano wird einen Teil ihrer Doktorarbeit darüber schreiben. Um unsere Beweggründe und unsere Gefühle zu verstehen, haben wir sie eingeladen, 10 Tage mit uns mit zu leben. Nachfolgend ihre erste Einordnung darüber. Wir sind gespannt auf die weitere gemeinsame Forschungsarbeit, denn unser grosser Traum ist es, mit unserem Projekt einen Impuls für eine Veränderung in der Nutztierhaltung zu setzen.

 

Lisa Märcz

Doktorandin an der Universität Lugano, Università della Svizzera italiana

Fakultät für Kommunikation, Kultur und Gesellschaft

 

Im Rahmen meiner Doktorarbeit zu Mensch-Tier-Beziehungen (“Eating An Other: Relationships between Human Consumers and Nonhuman Products”) forsche ich aktuell zur Weide- und Hoftötung in der Schweiz. Das Verfahren der Weide- und Hoftötung und die damit verbundene alternative Rinderhaltung ist vor allem motiviert davon, den eigenen Tieren ein unbeschwertes Leben und einen stressfreien Tod ermöglichen zu wollen. Kälber kommen im Beisein ihrer Herde zur Welt und sterben Jahre später als erwachsene Tiere ebenfalls im Beisein ihrer Herde. Ihr Zuhause nicht verlassen zu müssen bedeutet für Rinder essenziellen Komfort und Sicherheit. Im Gegensatz dazu steht der konventionelle Tiertransport zum Schlachthaus, der bei den meisten Rindern Angst und Stress auslöst, weil sie einerseits auf dem Hof von ihrer Herde getrennt, verladen und transportiert werden und andererseits im Schlachthaus einer unvertrauten Umgebung ausgesetzt sind und Stress und Angst von anderen Tieren wahrnehmen. Viele Bäuerinnen und Bauern kennen diese für das Tier belastende Situationen aus eigener Erfahrung und leiden oft selbst unter der Angst ihrer Tiere. Jene, die bei sich die Weide- oder Hoftötung durchführen, haben darin die (Er-)Lösung gefunden jedes einzelne ihrer Rinder vom ersten bis zum letzten Atemzug selbst begleiten und letztlich friedlich sterben lassen zu können. 

 

Foto: Calypso schaut ganz genau, was Lisa aufschreibt

Das Besondere an dieser Methode der Fleischgewinnung ist, dass hierbei die zu schlachtenden Tiere nicht als blosse Produkte im Vordergrund stehen, sondern als individuelle Lebewesen und Persönlichkeiten. Auf den Höfen, wo Weide- oder Hoftötung praktiziert wird, erhalten beispielsweise Rinder eigene Namen und die Möglichkeit sich in ihrer Herde physisch, mental sowie sozial zu entfalten. Ihr Leben, ihre Freundschaften, ihre Vorlieben, ihr Verhalten — kurz: ihre Identität und Geschichte — wird von ihren Bäuerinnen und Bauern wahrgenommen und für die Konsumenten sichtbar gemacht. Meine Forschung legt einen besonderen Fokus darauf, diese Rinder nicht als passive Objekte einer Nahrungsmittelkette darzustellen, sondern sie als aktive Mit-Gestalter eines Nahrungsmittel-Kreislaufs anzuerkennen. In einem Kontext, in dem Rinder letztlich immer noch von Menschen gehalten werden, ist die Weide- und Hoftötung derzeit nicht nur die einzige Methode, die sich an den Bedürfnissen der Tiere orientiert, sie ist in der Tat auch von ihnen abhängig: begibt sich ein Rind nicht von selbst in das Fixiergitter, wird die Hoftötung nicht ausgeführt; positioniert sich ein Rind nicht selbst vor den Gewehrlauf, wird auch die Weidetötung nicht vollzogen. 

Foto: Felix begrüsst Lisa

Meine Forschung führte mich bisher auf viele Schweizer Höfe, die die Weide- oder Hoftötung bereits anwenden. Mich interessiert einerseits die Methode an sich, als eine nachhaltige, in die Umwelt integrierte sowie Menschen- und Tier-würdige Alternative einer qualitativ hochwertigen Fleischherstellung; andererseits interessieren mich besonders die Menschen und Tiere, die diese Methode ermöglichen: Wer sind die Produzenten? Was ist ihre Motivation? Wie gehen sie damit um, die ihnen wohlbekannten und lieb gewonnenen Hofbewohner sterben zu sehen? Wer sind die Konsumenten? Warum kaufen sie Fleisch von den Tieren, die sie persönlich kennen? Wer sind die Rinder? Wie leben sie? Wie begegnen sie Menschen und anderen Tieren? Was können mir die Bäuerinnen und Bauern über sie erzählen? Wie gestalten sich die Rind-Mensch beziehungsweise Mensch-Rind Beziehungen?

Foto: Lisa darf der Mutterkuh Julia helfen, ihre neugeborenes Kalb Juno abzutrocknen (Vertrauen pur)

Um diesen Fragen nachzugehen, durfte ich auf der Obermettlen bei Marlen und Stephan und ihren aktuell 16 Rindern das Leben auf dem Hof für zehn Tage begleiten und teilen. Da meine Forschung grundsätzlich nicht nur auf Gesprächen und Interviews basiert, sondern zum grossen Teil auf “teilnehmender Beobachtung”, einer qualitativen Methodik aus den Kulturwissenschaften, war die Zeit auf der Obermettlen von grosser Bedeutung. Der Sinn einer teilnehmenden Beobachtung ist, sich so weit wie möglich vom eigenen Leben zu befreien (inklusive allem Vorwissen, eigener Meinungen, Spekulationen und Wertvorstellungen), um so offen wie möglich in die Welt der anderen eintauchen und von innen heraus verstehen zu können. Durch ihre Grosszügigkeit und Offenherzigkeit, haben mich Marlen und Stephan an allem teilnehmen lassen, was während meines Aufenthaltes auf dem Hof anfiel — und das war beeindruckend viel während so kurzer Dauer. Ich habe die Geburt von Juno erlebt, die Hoftötungen von Zorro und Jo begleitet, und Stallarbeit, Holz schichten und Unkraut ziehen waren ebenso Programm wie Rinder beobachten und mit den Kälbchen spielen. Ich habe gelernt eine Kuh zu melken (herzlichen Dank an die geduldige Julia) und an welchen Stellen die Rinder am liebsten gebürstet werden. Ich habe auch gelernt wie viel Arbeit es bedeutet einen Schädel auszukochen und wie unterschiedlich es sich anfühlt, verschiedene Organe (Innereien) mit dem Messer zu teilen, um Futter für meinen Hund und die Hofkatzen herzustellen. Kurzum: ich habe intensiv am Kreislauf des Lebens auf der Obermettlen teilnehmen dürfen und verstanden, wie die Ökologie eines Hofes funktioniert, auf dem Erdboden, Gras, Menschen, Rinder und weitere Lebewesen ihren Platz haben und gemeinsam die Basis für nicht nur ihr eigenes Leben schaffen, sondern darüber hinaus eine Gemeinschaft von Menschen versorgen, die sich nach einem bewussten Umgang mit ihrer Umwelt sehnt.

Foto: Lisa und Jo beim Training für die Angewöhnung an das Fanggitter

Teile dieser Gemeinschaft sind Menschen, die die Hoftötung ermöglichen: die Konsumenten. Durch einige erste Gespräche mit Paten und Gönnern der Herbstzeitlosen Herde erklärte sich mir mehr und mehr das Gesamtkonzept des Hofes und ich gewann erste Einblicke in die Beweggründe von Menschen, die bewusst wissen möchten, woher ihr Fleisch kommt. Im Sinne einer Contact Zone (Haraway 2008), in der sich Menschen und andere Tiere begegnen und Beziehungen interaktiv herstellen, bietet die Obermettlen Raum und Zeit für ebensolche Begegnungen: Paten besuchen ihre Patenkälber, andere ihre Patenbäume, die Rinderherde begegnet Familien und Wanderer, Hunde stecken ihre Nasen in den Stall und man trifft auf Katzen und Krähen und gelegentlich auf Greifvögel und Igel. Bedeutsam und besonders ist die Begegnung zwischen Produzenten und Konsumenten vor allem für eine zukünftig nachhaltige und Lebewesen-schonende Fleischgewinnung. Vorbei an der Industrie, wie mir scheint, werden hier regional und lokal die jeweiligen Interessen direkt ausgehandelt: Transparenz und Qualität in der Produktionskette sowie der respektvolle und bewusste Umgang mit Lebewesen und Nahrungsmitteln. 

Foto: Tierartenübergreifende Begegnung von Kater Merlin und Calypso

Als ein Grundpfeiler meiner Forschungsarbeit steht rethinking efficiency (“Effizienz neu denken”) eng verbunden mit der Weide- und Hoftötung. Die bisherige Interpretation von Effizienz, schneller, billiger und mehr zu produzieren, trifft auf Höfen wie der Obermettlen auf den Kontrast von “weniger, dafür hochwertiger”. Dass dieses Umdenken von Fleischkonsum auf die Interessen von sowohl Bauern und Bäuerinnen trifft, als auch auf die vieler Konsumenten, beweist der bisherige Erfolg der Weide- und Hoftötung in der Umsetzung von Projekten wie dem der Herbstzeitlosen, welches besonderer Weise ausschliesslich von älteren Kühen getragen wird, die ohne Marlen und Stephans Konzept gar nicht mehr leben würden. Die Rinder mit dem zu füttern, was bereits vorhanden ist — dem Gras — ist Teil des Konzeptes Feed no Food, bei dem es darum geht, Farmtiere nicht mit Rohstoffen zu versorgen, die man bereits an Menschen verteilen könnte. Viele Höfe, die ihre Tiere so halten, bauen zusätzlich Gemüse, Getreide und Obst an, was einerseits als Quelle der Selbstversorgung dient und im Verkauf sogar teilweise mehr einbringt als die Fleischprodukte.

 

Meine Forschung reiht sich ein in die Bestrebungen, Aspekte des menschlichen Lebens nachhaltig zu verbessern um unmittelbar andere Lebewesen sowie Land, Wasser und Luft zu entlasten. Ganz im Sinne der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (UN Sustainable Development Goals), greift die Praktik der Weide- und Hoftötung eine alte Tradition der Rinderhaltung und Kleinbauernhöfe auf, die einst durch die industrialisierte Massentierhaltung zurückgedrängt wurde. Angepasst an postmoderne Entwicklungen, repräsentiert sie damit eine wertvolle Lösung zur gesunden, qualitativ hochwertigen, transparenten und Umwelt- und Lebewesen schonenden Ernährung zukünftiger Generationen.

 

Foto: Eine kleine Herbstzeitlosen-Patin lernt Juno kennen

Ich danke Marlen und Stephan sowie der Herbstzeitlosen Herde von ganzem Herzen, dass ich sie für meine Forschungsarbeit begleiten darf. Mein Dank gilt auch bereits allen Paten, die ich bisher kennen lernen durfte und die bereit sind, ebenfalls Teil meiner Forschung zu werden.

 

Bei Interesse bin ich erreichbar unter lisa.maercz@usi.ch

 

Literatur: Haraway, Donna. 2008. When Species meet. Minneapolis London: University of Minnesota Press.

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Forschung Lisa Marcz im Projekt Herbstzeitlose
Forschung Lisa Märcz im Projekt Herbstze
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Herbstzeitlose @ Marlen & Stephan Koch-Mathis, Obermettlen, CH-6037 Root,  Tel. +41 41 451  02 00, info@obermettlen.com